Stadtanzeiger
Der STADTANZEIGER und der SOLINGER BOTE
Zwei starke Titel unter einem Dach
Was so auffiel
Von Friedhelm Funk
Dr. Sommer hilft Dir! Was die Zeitschrift Bravo als Ratgeber für Pubertierende bekannt machte, versucht nun der DGB mit Dr. Azubi für Lehrlinge. Ein Onlineportal, das auf anonym geschilderte Probleme innerhalb von 48 Stunden eine Antwort verspricht. Darauf finden sich Berichte wie: „Der Chef meinte, er müsste sich mal mit mir unterhalten, wie es weitergeht mit meiner Ausbildung. Dabei hatte ich nie oft eine Krankschreibung & wenn, dann war ich immer Krank. Ich mache jeden Tag Überstunden. Da sag ich auch nichts zu. Ich verstehe nicht, was dies jetzt soll.“
Das zu lesen rückt Weisheiten gerade. Wie „Hauptsache, von der Straße“ oder: „Hauptsache, eine Ausbildung machen“. Zum Ende des Sommers verstärken Politiker über die Medien Druck den auf die Arbeitgeber. Die Arbeitsagenturen betteln in Telefonaktionen insbesondere bei kleineren Betrieben um Lehrstellen. Eine Debatte, in der es leichtfällt auf der richtigen Seite zu stehen, solange man nicht selbst betroffen ist. Die Probleme fangen unten an. Damit, dass beispielsweise in Solingen nicht jedes Kind kostenlos den Kindergarten besuchen kann. Dass Schulunterricht auf einem Niveau abläuft wie es das Fernsehmagazin Panorama vorstellte. Die Moderatorin Anja Reschke schilderte die Zustände in einer Klasse mit 22 zwölfjährigen Schülern, davon sechs mit attestierten Lernschwierigkeiten, die selbst geringste Anforderungen nicht erfüllen konnten. Als Zuschauer habe ich mich gefragt: wie halten das die Lehrer bloß aus? Noch schlimmer: Der Schuldirektor kam zu Wort und meinte: Die meisten Schüler erhielten ja einen Abschluss. Der sei qualitativ aber nicht unbedingt so, um damit auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Genau das ist der Punkt. Warum soll sich ein Chef Schulabgänger in den Betrieb holen, von denen er den Eindruck gewinnt: der oder die packt die Lehre gar nicht? Oder: wenn die Chemie nicht stimmt? Manieren, Sprachdefizite, Körperschmuck oder Übergewicht erschweren den täglichen Umgang miteinander. Verantwortlich handelnde Ausbilder stellen Bewerber ein, die sie überzeugen. Und nur dann, wenn sie den jungen Leuten eine berufliche Perspektive bieten können.
Der Bericht von Monitor zeigt, warum ein Drittel der Jugendlichen Warteschleifen im Übergangsbereich zwischen Schule und Beruf drehen muss. Warum die Abbrecherquote in bestimmten Berufen bei 50 Prozent liegt. Warum bestimmte Bewerber überhaupt keine Ausbildungsstelle finden.
Die Einträge bei Dr. Azubi dokumentieren, dass auch in Ausbildungsbetrieben manches im Argen ist. Wo Chefs ihre Lehrlinge ausnutzen, beschimpfen oder öffentliche Zuschüsse abgreifen und danach die Jugendlichen rausschmeißen. Wahrheiten über ungeeignete Ausbilder, nicht ausbildungsfähige Jugendliche, die Misere in manchen Schulklassen, darüber kommt den zuständigen Experten nur im vertraulichen Ton etwas über die Lippen. Das ist unredlich.
Ein Schulabgänger, der weiß, was er will und kann, der trifft auch die richtige Berufsentscheidung. Ausbildungsbörsen, auf denen Schüler ihren Besuch per Unterschrift nachweisen müssen, das nennt der Volksmund „den Hund zum Jagen tragen“. Eine Volkswirtschaft, die immer höhere Ansprüche an die Mitarbeiter stellt, kann es sich nicht leisten, dass gute Schüler in Klassen, wie bei Panorama gezeigt, versauern. Wo Lernbehinderte, pöbelnden Banknachbarn oder sprachlich unterentwickelte Kinder ohne Förderung von zu Hause den Lernerfolg in den Keller drücken. Parallel blockiert die Inflation der Noten begabte junge Leute auf der Suche nach ihrem Wunschberuf oder Studium. Mit einem 3er Abi findet faktisch kaum noch jemand den Zugang zu einer Uni im bevorzugten Fach. Wie würden Sie, liebe Leser, über einen Ladenbesitzer urteilen, bei dem ein Drittel der Kunden rausgeht, ohne etwas zu kaufen? Dann verändert man doch sein Angebot. Oder? Und genau das passiert nicht in Deutschland. Erste Schritte wären, das Fach Berufsorientierung in allen Schulen über mehrere Jahre zum Pflichtfach zu machen. Oder den Leistungsanspruch steigern. Es stimmt nicht, dass man ohne den Besuch einer Hochschule im Leben nichts werden kann. In den technischen Bereichen fehlen bis zum Jahr 2020 etwa 150.000 Akademiker, aber sage und schreibe fehlen 1,4 Millionen Facharbeiter. Ein Versuch macht kluch, die Volksweisheit mag vielfach zutreffen, bei Bildung und Ausbildung sollte es in Deutschland endlich zielstrebiger zugehen.
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